Genie auf Ski – Loïc Meillard kann auf den schmalen Latten alles, aber er will kein Egoist sein

Mit dem Riesenslalom in Sölden wird die Saison der Alpinen lanciert. Grösster Konkurrent von Marco Odermatt im Kampf um die Gesamtwertung ist ein Schweizer. Gelingt es dem Slalomweltmeister Loïc Meillard, endlich einmal eine Saison durchzuziehen?

Wenn er seine Ski mit unglaublichem Feingefühl und Präzision auf die Kante setzt, schafft Loïc Meillard eine Ästhetik des Augenblicks. Sein Trainer Matteo Joris sagt: «Technisch ist er der beste Skirennfahrer der Welt.» Und Meillard zählt auch zu den erfolgreichsten. An den WM im Februar gewann der 28-Jährige bei drei Starts zweimal Gold und einmal Bronze.
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Vor allem aber schaffte er etwas, das man in der Schweiz über Jahrzehnte für illusorisch gehalten hatte: Er wurde Weltmeister im Slalom – seit Einführung des Weltcups 1968 hatte es das bei den Männern nie gegeben. «Ein Traum ist in Erfüllung gegangen», sagt Meillard in einem Gespräch Ende September in Zürich, «aber ich habe mich am nächsten Tag schon gefragt, was ich besser machen könnte.»
Der Sportler sprach dabei auch von der Flüchtigkeit des Glücks: «Wenn du als Sieger im Zielraum stehst, mit Trainern, Teamkollegen und Familie, dann werden die Emotionen tausendfach verstärkt. Ich bekomme fast Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.» Aber schon am nächsten Tag falle all das zusammen. «Du sagst dir: Die Arbeit geht weiter.»
Loïc Meillard demonstriert die Kunst der BewegungAlso machte sich Meillard an die Arbeit, und diese Arbeit trug Früchte: Drei Siege fuhr er nach den WM im Weltcup ein. Der Athlet gilt als Perfektionist, doch Julien Vuignier, der ihn schon als Primarschüler trainierte und heute seine engste Bezugsperson im Staff des Slalom-Teams ist, wählt einen anderen Ausdruck: «Loïc – das ist die Kunst der Bewegung.»
Die Familie sei früher viel frei in der Natur Ski gefahren. «Man spürt die Freude, die Loïc damit verbindet.» Meillard sagt, das gelte für alle Facetten dieses Sports: Er liebe die Millimeterarbeit im Slalom genauso wie das Adrenalin und das Tempo im Super-G. Und wenn es einmal ein paar trainingsfreie Tage gibt, schnallt er die Tourenski an, erklimmt einen Berg und braust durch den Tiefschnee hinunter.
«In solchen Momenten bin ich ganz bei mir. Es gibt keine Zeitmessung, keine Zwänge, nur die totale Freiheit», sagt Meillard. Für Spitzensportler sei es wichtig, zwischendurch den Kopf auszuschalten. Besonders gilt das wohl für einen Perfektionisten wie ihn. Meillard hat eine präzise Vorstellung von dem, was er auf der Piste will.
Dieses Bild von der perfekten Fahrt, das er stets im Kopf hat, könne auch zu einer Schwäche werden, sagt Joris, Gruppentrainer der Slalomfahrer. «Loïc kann so sehr auf seine Linie fixiert sein, dass er es verpasst, die zwei, drei direkter gesteckten Tore mit der nötigen Aggressivität zu fahren.» Es ist manchmal ein schmaler Grat, auf dem sich das Genie auf Ski bewegt. «Ist er im Flow, kann er alles», sagt Joris, «pusht man ihn zu sehr, verliert er seine Gabe.»

Jean-Christophe Bott / Keystone
Meillard selbst sagt über seine Suche nach Perfektion: «Es gibt Tage, an denen ich sehr gut fahre, aber mich trotzdem frage, welches Detail mich noch schneller machen könnte.» Das führt dazu, dass bei ihm der Unterschied zwischen Training und Wettkampf relativ klein ist, anders als etwa beim Teamkollegen Daniel Yule, der immer noch einen Gang höherschalten kann, wenn es um etwas geht.
Der Hang zum Perfektionismus kann aber negativ sein, wenn zum Beispiel die Bedingungen schlecht sind. Statt zu akzeptieren, dass man auf einer Rumpelpiste keinen Schönheitspreis gewinnt, regt sich Meillard auf. «Ich bin ein Champion, wenn es darum geht, mir ins eigene Bein zu schiessen», sagt er. Dann braucht es die Trainer, die ihm sagen: «Schau, das ging heute nicht besser.»
Die Trainer, die Teamkollegen, das Umfeld: Das ist wichtig für Meillard, der Harmonie braucht, um sich zu entfalten. «Und gegenseitigen Respekt», fügt er an. In der Slalomgruppe arbeiteten alle in die gleiche Richtung, pushten sich gegenseitig und triezten sich bisweilen. Und die Trainer achten auch darauf, dass nicht Verbissenheit dominiert.
«Spass ist der Schlüssel zum Erfolg», sagt Joris, «nur mit Freude kommt man aus der Komfortzone raus.» Das beste Beispiel dafür habe Meillard im vergangenen Winter geliefert. Beim Einfahren zum ersten Rennen des Winters in Sölden zog er sich einen Riss in der Hülle der Bandscheibe zu: eine extrem schmerzhafte Verletzung. Bis zum nächsten Rennen, dem Slalom in Levi, konnte er so gut wie nicht trainieren – und dann fuhr er als Dritter aufs Podest.
Meillard gilt seit Jahren als Athlet, der den heiligen Gral des Skirennsports erobern könnte, die grosse Kristallkugel für den Gewinn des Gesamtweltcups. Er hat das Zeug, auch Marco Odermatt in die Schranken zu weisen. Aber dann sind es Details, die ihn zu Beginn des Winters aus dem Gleichgewicht bringen.

Christophe Pallot / Agence Zoom / Getty
In der vergangenen Saison war es die Rückenverletzung, die lange fast kein hochintensives Training zuliess. Im Jahr davor hatte er mit dem Prototyp einer neuen Bindung experimentiert, die zweimal in entscheidenden Passagen aufsprang: beim Saisonstart in Sölden und in Adelboden, als der Fahrer endlich wieder den Tritt gefunden zu haben schien.
Schmerzen im Rücken, ein Ski, der in einer Kurve einfach wegfliegt – das sind Dinge, die auch mental schwer zu verarbeiten sind. In den letzten beiden Jahren fand Meillard jeweils erst in der zweiten Saisonhälfte zur Topform. 2024 war er zum Saisonende der dominierende Athlet, 2025 war er schon an den WM überragend und zog das danach weiter. Fünf seiner sieben Siege im Weltcup hat er in diesen beiden Saisons errungen – alle fünf im März.
Liegt das nur an den Problemen zu Beginn des Winters, oder fehlt Meillard der Egoismus, den es braucht, um andere in Grund und Boden zu fahren? Darüber wird immer wieder spekuliert. Als er im Frühling 2022 von der Riesenslalom- in die Slalomgruppe wechselte, hiess es, er wolle der täglichen Konfrontation mit Odermatt aus dem Weg gehen. Dieser hatte in jenem Frühling erstmals die Gesamtwertung gewonnen.
Meillard sagt, der Wechsel habe nichts mit Odermatt zu tun gehabt. Er habe weiterhin auf hohem Niveau Slalom trainieren wollen, die Gruppe hingegen habe sich immer mehr in Richtung Speed entwickelt. «Es war immer ein Kampf, wenn es darum ging, für mich allein gute Slalomtrainings zu organisieren.» In der Gruppe von Joris habe das Priorität, aber es werde auch viel Riesenslalom gefahren.
Dass das Gleichgewicht stimmt, zeigt Meillards Erfolgsausweis. Seit er unter Joris trainiert, hat er im Weltcup zwei Slaloms gewonnen – und vier Riesenslaloms. Dazu gab es auch noch drei Podestplätze im Super-G. Die Speed-Disziplinen haben beim 28-Jährigen derzeit nicht erste Priorität, obwohl er sagt, dass ihn auch die Abfahrt reize.
Es ist durchaus möglich, dass er sich in ein paar Jahren neu orientiert. Denn Meillard sagt: «In allen vier klassischen Disziplinen zu gewinnen, wäre etwas Besonderes, nur wenige haben das geschafft.» Bei den Männern waren es gerade einmal fünf Athleten.
Doch das ist Zukunftsmusik. In Sölden geht es für Meillard darum, wieder einmal gut in die Saison zu starten. Wenn es ihm konstant gelingt, die Linien an die Hänge zu zaubern, die er im Kopf hat, wird der Gesamtweltcup vielleicht irgendwann im Februar zum Thema.
Was den Eigennutz im Sport angeht, hat er eine dezidierte Meinung: «Man muss kein Egoist sein, um Erfolg zu haben. Ich habe am Ende der Karriere lieber ein paar Siege weniger im Palmarès – und bin stolz darauf, ich selbst geblieben zu sein.»
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