Aufstieg und Realitätsverlust in Bern – warum der YB-Architekt Christoph Spycher auf einmal im Gegenwind steht

Die Young Boys erlebten in den letzten Jahren die beste Phase ihrer Vereinsgeschichte. Aber es fehlte jüngst an Visionen, die Ansprüche sind stark gestiegen, Fehler häuften sich – und in Bern verstärkt sich die Kritik am Klub.
Fabian Ruch

Am Montag schrieb die Facebook-Gruppe «YB-Fans 1898», wie enttäuscht sie von den Leistungen der Young Boys sei. An Christoph Spycher waren folgende Worte gerichtet: «Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Dieses Dahindümpeln kann nicht länger hingenommen werden. Wenn du den Weg nicht mehr siehst, dann mach Platz für jemanden, der wieder Feuer in diesen Verein bringt.»
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Einen Tag vorher hatte YB das Heimspiel gegen St. Gallen 1:2 verloren. Die Stimmung im ausverkauften Wankdorfstadion war seltsam, phasenweise feindselig, für neutrale Beobachter fast schockierend. Der Trainer Giorgio Contini musste «Contini raus»-Rufe über sich ergehen lassen. Und der Captain Loris Benito sagte: «Wir haben keine Krise. Das wäre es, wenn wir Zweitletzter wären.»
YB's troubles continue. Wildly inconsistent, thrashed 5-0 by Lausanne before the international break and now a home loss to title-challenging St. Gallen.Giorgio Contini can't last much longer at this rate.
📹 @blueSport_de pic.twitter.com/lGzI1nwp1w
— Craig King - 𝗙𝗼𝗼𝘁𝗯𝗮𝗹𝗹𝗦𝘄𝗶𝘀𝘀EN (@FootballSwissEN) October 19, 2025
In den sozialen Netzwerken, in wütenden Leserkommentaren und in fiebrigen Fan-Foren bekam man in den letzten Tagen das Gefühl, die Young Boys stünden kurz vor dem Abstieg. Dabei ist YB Fünfter und hat gegen St. Gallen erstmals seit über einem Jahr ein Super-League-Heimspiel verloren – nach sechzehn Siegen und drei Unentschieden.
Ein Sportchef als Mitbesitzer – mindestens eigenartigWas ist da los in Bern? Warum verschieben sich gerade Grenzen? Und weshalb rückt ausgerechnet Christoph Spycher so stark in den Fokus? Die Liste der Vorwürfe ist lang: Spycher habe in einer Blase mit wenigen Mitstreitern den Bezug zur Realität verloren, er sei machtbewusst und ein Schönredner, der bloss noch Floskeln und Durchhalteparolen predige, mache nicht nur auf dem Transfermarkt viele Fehler, gefährde sogar sein Lebenswerk.
Christoph Spycher ist Mister YB. Im Organigramm ist er aufgeführt als Verwaltungsrat, Delegierter des Verwaltungsrats und als Verantwortlicher im Sport. Und er ist Mitbesitzer des Klubs, als Minderheitsaktionär neben der Familie Rihs.
Ein Sportchef als Mitbesitzer? Womöglich einzigartig, ganz sicher eigenartig. Viel Macht, viel Verantwortung. Wenn einer das könne, hiess es in Bern auch schon, dann «Wuschu», wie der 47-Jährige schon als Bub gerufen wurde. «In Wuschu we trust» lautete jahrelang ein Slogan im YB-Umfeld.
Wenn man sich länger mit Spycher unterhält, ist Enttäuschung zu spüren, die Kritik nagt an ihm, er schlief schon angenehmer. Spycher wägt die Worte ab, er ist wie immer differenziert, überlegt auch einmal ein paar Sekunden, bevor er antwortet. «Natürlich haben wir Fehler gemacht», sagt er. Und: «Wenn ich diese extremen Stimmungen nicht aushalten kann, muss ich den Job wechseln.» Er sei seit über 25 Jahren im Profifussball und habe eine gewisse Resilienz entwickeln müssen. «Vielleicht ist das auch ein Zeichen der Gesellschaft heute, dass die Suche nach Schuldigen fast immer läuft.»
Christoph Spycher ist das einzige Gesicht des KlubsDer YB-Sportchef Steve von Bergen hat den Stress nicht mehr ausgehalten. Er zog sich im Sommer zurück – mehr Familie, weniger Fussball. Spycher rückte wieder näher ans Team, moderierte vor dieser Saison einen umfassenden Umbau im Spielerkader, erlebt jetzt die vielleicht unangenehmste Zeit bei YB. Einmal sagt er im Gespräch, fast mehr zu sich selbst: «Alles haben wir in den letzten Jahren nicht falsch gemacht.»
Man könnte auch sagen: Christoph Spycher ist der Architekt der erfolgreichsten Phase der YB-Vereinsgeschichte. Als der Berner im September 2016 zum Sportchef ernannt wurde, lagen die Young Boys wieder einmal am Boden. Sportlich meilenweit hinter dem FC Basel, wirtschaftlich mit einem zweistelligen Millionendefizit, wie schon in den Jahren zuvor mehrmals.
Die imponierende Bilanz seither: sechs Meistertitel, zwei Cup-Siege, vier Champions-League-Teilnahmen, seit Jahren ein Zuschauerschnitt von über 28 000, ein Eigenkapital von rund 70 Millionen Franken. YB stieg zum Stolz der Stadt auf, strahlte Lust und Spass aus, lieferte unvergessliche Emotionen.
Spycher ist das Gesicht des Klubs. Womöglich ist das eine Erklärung für die Häme, die derzeit auf ihn einprasselt. Dabei trat er nie grosskotzig auf und ärgerte sich sogar, wenn Medien schrieben, man müsse eine Statue von ihm vor dem Wankdorf aufstellen. Er versteht sich als Teamplayer, ist anständig und kein Selbstdarsteller, wie es sie im Fussball oft gibt.
Erfolg schafft Neider – nicht alle mögen SpycherAber vielleicht ist YB zu schnell zu gross geworden für Bern – und damit auch Spycher. Natürlich hätte er vor neun Jahren unterschrieben, dass sich der Klub bis 2025 so prächtig entwickeln würde. Er sagt: «Damals hätten wohl alle, die es mit YB halten, auch für einen einzigen Cup-Sieg unterschrieben.» Über drei Jahrzehnte warteten die Young Boys auf einen Titel – bis zur Meisterschaft 2018.
Die Erwartungen steigen mit jedem Erfolg. Aus Lust wird Last. Wer sich regelmässig mit Bernhard Heusler unterhält, erfährt eine Menge darüber. Der frühere Präsident des FC Basel stieg 2017 aus, nach acht Meistertiteln in Serie. Er spricht davon, dass man Ziele erreichen, aber Visionen verlieren könne. In einem Interview mit der NZZ sagte Heusler 2017: «Mit den vielen Erfolgen ist es zu einem gewissen Realitätsverlust gekommen. Plötzlich sind in der Schweiz alle Gegner des FC Basel schlecht, jeder nationale Sieg ist bloss Pflichterfüllung, jeder Meistertitel selbstverständlich.»
So ist das auch in Bern. YB bewegt, interessiert, polarisiert. Wenn der Eishockeyklub SC Bern als Zweitletzter den Trainer wechselt, geht das in Bern fast unter. Die Young Boys dagegen werden angeprangert. Und es gibt Leute auf allen Stufen, die den Klub in den letzten Jahren verlassen mussten – und deshalb nicht besonders euphorisch über Spycher sprechen.
Erfolg schafft Neider. Bei YB spricht man sogar von einer Medienkampagne der Berner Zeitungen gegen Spycher. Das würde in das Bild passen, das Kritiker vom Klub zeichnen. Von Realitätsverlust ist die Rede und davon, dass sich Spycher isoliert habe, eine Wagenburgmentalität aufgebaut habe, Ja-Sager um sich schare. Spycher sagt, er habe sich nicht verändert und vertraue Leuten, die sich in den Dienst des Klubs stellten.
Die bemerkenswerten Parallelen zum FC BaselMarcel Brülhart ist seit diesem Sommer Verwaltungsratspräsident der Young Boys. Er will Spycher in der Öffentlichkeit stärker unterstützen, damit auch einmal andere hinstehen und kommunizieren. «Vielleicht hat YB ein wenig verlernt, mit sehr schwierigen Situationen umzugehen», sagt Brülhart. Es ist eine Aussage, die man vor zehn Jahren niemals für möglich gehalten hätte.
YB hat schnell gelernt, mit Erfolg umzugehen – und ist so hoch geflogen, dass der Trainer Raphael Wicky im Frühling 2024 entlassen wurde, obwohl die Young Boys Leader waren. Es fehlte an einer Perspektive und an Visionen, YB begeisterte nicht mehr. Nur Meister werden: langweilig!
Auch in Basel mussten in den Jubeljahren Trainer wie Murat Yakin und Urs Fischer trotz Titeln gehen, weil die Spielweise zu wenig attraktiv gewesen sein soll. Brülhart fasst zusammen, was YB heute alles erfüllen müsse: «Schön spielen, erfolgreich sein, wirtschaftlich florieren, Werte leben, die Frauenabteilung muss sich rasch entwickeln, das neue Trainingszentrum so schnell wie möglich gebaut werden.» Der Anwalt und Unternehmer betont, dass er sich nicht beklage. «Diese Ansprüche hat sich YB erarbeitet.»
In den letzten Jahren haben die Young Boys bei personellen Entscheidungen teilweise ihr gutes Gespür verloren. Die Transferpolitik war nicht immer überzeugend, das Kader ist allerdings auf dem Papier stark besetzt. Bloss: Passen die Individualisten zusammen? Hat das Team jetzt genügend Identität? Und: Warum gelingt es dem Trainer nicht, das Team weiterzuentwickeln?
Der Trainer Contini steht unter Druck – er braucht SiegeBei der Trainerwahl griffen die Young Boys mehrmals daneben. Giorgio Contini ist seit Anfang Jahr verantwortlich, seine Bilanz ist bestenfalls mittelmässig und wird von zwei bitteren Niederlagen im Cup gegen die unterklassigen FC Biel und FC Aarau überschattet – und er hat schon zwei Mal 0:5 verloren, im April in Luzern, vor drei Wochen in Lausanne. Das 3:2 am Donnerstag in der Europa League gegen Ludogorez Rasgrad war auch für Contini ein kleiner Befreiungsschlag. Spycher stärkt ihm den Rücken, erwartet jedoch eine klare Steigerung und mehr Konstanz. Die Lage bleibt ungemütlich.
YB steht vor einer wegweisenden Woche – mit den Spielen am Sonntag und am Donnerstag in Zürich gegen den FCZ und GC sowie am darauffolgenden Sonntag zu Hause gegen den Rivalen FC Basel. Mühsamer Liga-Alltag. Christoph Spycher hätte als Sportchef mehrmals in die Bundesliga wechseln können – als Held in Bern. Er blieb, die beiden Söhne gingen noch zur Schule, er hängt an YB. Nun kämpft er auch um sein Lebenswerk.
Ein Artikel aus dem «NZZ am Sonntag»
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