Die Sternstunde dauert 12,24 Sekunden: Ditaji Kambundji stürmt in Tokio der Konkurrenz davon und ist Weltmeisterin


Sarah Meyssonnier / Reuters
Eine Sternstunde dauert manchmal nur 12,24 Sekunden. So lange brauchte Ditaji Kambundji, um einen perfekten Hürdensprint zu zeigen und in die Geschichtsbücher der Leichtathletik zu stürmen. Aus der Schweiz gewannen nur der Kugelstösser Werner Günthör (1987, 1991, 1993) und der 800-m-Läufer André Bucher (2001) zuvor Titel auf dieser Bühne. Beide dominierten damals ihre Disziplin, Kambundji war an diesen WM nur Aussenseiterin.
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Der Titel von Ditaji Kambundji kann kaum hoch genug eingeschätzt werden, denn die 100 m Hürden sind in diesem Jahr die Disziplin mit der dichtesten Spitze. Zwölf Athletinnen waren vor den WM weltweit schneller als die Bernerin. Sieben von ihnen sind Amerikanerinnen, ihre Trials hatten das Niveau von Olympischen Spielen.
Dadurch, dass an den WM nur drei Athletinnen pro Nation starten dürfen, wurde das Feld in Tokio zwar ein wenig ausgedünnt. Dennoch brauchte Kambundji einen Exploit, um nur schon in den Final vorzustossen. Und einmal mehr bewies die 23-Jährige, dass sie fähig ist, im entscheidenden Moment ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Ihre einfache Erklärung am Mikrofon des Fernsehsenders SRF: «Ich bin einfach schnell gerannt, und dann hatte ich Gold.»
Kambundji hat sich zur Meisterin des Exploits entwickeltUnd wie sie das tat: Sie verbesserte ihren Landesrekord um sagenhafte 16 Hundertstelsekunden. Solche Exploits sind mittlerweile fast schon ihre Spezialität: 2023 senkte sie ihre Bestzeit vor Heimpublikum in Bern deutlich, 2024 lief sie den damaligen Rekord auf dem Weg zu EM-Silber, im letzten Winter pulverisierte sie ihre Bestzeit über 60 m Hürden und wurde Halleneuropameisterin. Nun ist sie die Nummer 7 der Leichtathletik-Geschichte.
Dass Kambundji im entscheidenden Moment parat war, war allerdings nicht immer so. Schon als Juniorin fiel sie durch ihre extreme Explosivität auf, hatte aber Mühe, diese zu kontrollieren. Das hatte gleich zweimal schmerzhafte Konsequenzen, physisch und auch mental. Im Sommer 2021 wollte sie Junioren-Weltmeisterin werden, kam wie eine Rakete aus den Blöcken und stürzte an der vierten Hürde. Ein halbes Jahr später stand sie an den Hallen-WM der Aktiven im Final. Wieder schoss sie los, wieder crashte sie – diesmal schon an der zweiten Hürde.
Die Athletin war damals noch nicht einmal 20-jährig und musste lernen, dass sich die Welt nicht mit purem Ungestüm erobern lässt. Dass sie fähig ist, aus Rückschlägen rasch Konsequenzen zu ziehen, bewies sie noch im selben Jahr. An den EM in München gewann sie überraschend Bronze. Sie war in der Welt der Elite angekommen.
Der kometenhafte Aufstieg Ditaji Kambundjis unterscheidet sich diametral von dem Weg, den ihre zehn Jahre ältere Schwester Mujinga ging. In dem Alter, in dem Ditaji ihre erste Medaille bei der Elite gewann, musste sich Mujinga noch mit nationalen Titeln begnügen. Erst mit 21 entschied sie, voll auf die Leichtathletik zu setzen, dislozierte nach Deutschland und verlieh ihrer Karriere den grossen Schub.
Mit 24 Jahren gewann sie EM-Bronze über 100 m, inzwischen ist sie 33 und hat elf internationale Medaillen gesammelt. Mujinga Kambundji ist die erfolgreichste Schweizer Leichtathletin der Geschichte, war der Leitstern für die heutige Generation und über Jahre hinweg Teamleaderin an Grossanlässen. Derzeit bereitet sie sich auf die Geburt ihres ersten Kindes vor. Doch danach will sie auf die Bahn zurückkehren.
Die perfekte Mischung aus Fokus und LockerheitDie kleine Schwester hat unbestritten von der grossen profitiert, aber das allein ist keine Erklärung für ihre Erfolge. Es braucht dazu viel Talent und die Fähigkeiten, es umzusetzen. Auffällig ist, mit welcher Mischung aus Fokus und Lockerheit sie das tut. Kurz vor dem Start scheint die Welt um sie herum stillzustehen, doch kaum hat sie die Ziellinie überquert, wirkt sie wie ein Teenager, der gerade ein cooles Weihnachtsgeschenk ausgepackt hat.
Fabrizio Bensch / Reuters
Das zeigte sich schon im März an den Hallen-EM, als die Athletin nicht nur den Titel über 60 m Hürden gewann, sondern mit 7,67 auch Europarekord und die zweitbeste Zeit der Weltgeschichte lief. In jenem Rennen wurde offensichtlich, dass Ditaji Kambundji das Zeug hat, um auf allerhöchster Ebene zu triumphieren. In Tokio sagte sie: «Ich wusste, jede Einzelne in dem Rennen hat das Potenzial, zu gewinnen, und ich bin eine davon. Also habe ich mich auf mich selbst konzentriert.»
Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Perfektion tat die Hürdensprinterin Ende 2022, als sie in Teilzeit zur Basler Hürdentrainerin Claudine Müller wechselte. Die ehemalige Siebenkämpferin betreut auch Jason Joseph, ein anderes Ausnahmetalent. An der Schnelligkeit arbeitet Kambundji in Bern zusammen mit ihrer Schwester unter Florian Clivaz, zwei- bis dreimal pro Woche fährt sie nach Basel.
Müller arbeitet dort mit einer eingeschworenen Gruppe, aus der Kambundji und Joseph leistungsmässig herausragen. Die beiden sind Profis bis ins kleinste Detail des Lebenswandels, die Trainingskollegen bringen etwas Lockerheit in den Alltag. Damit sich die Champions gegenseitig pushen können, setzt Müller hin und wieder Handicaprennen an: Kambundji startet mit Vorsprung, Joseph muss sie jagen.
Es geht dabei aber nie nur ums Tempo, die Trainerin legt Wert darauf, dass jedes Detail technisch korrekt ausgeführt wird. So werden Automatismen erarbeitet, die auch im Wettkampf unter Adrenalin funktionieren. Kambundji beherrscht das inzwischen perfekt – auch dann, wenn sie wie in Tokio in neue Dimensionen stürmt.
Die neue Weltmeisterin lief schon den ganzen Sommer auf hohem Niveau und egalisierte im letzten Rennen vor den WM bei Weltklasse Zürich ihren Landesrekord von damals 12,40. Kambundji wusste schon damals, dass sie fähig ist, an einem Grossanlass noch eine Schippe draufzulegen.
Das entspricht auch einer Erkenntnis der Leichtathletik: Wenn jemand stabil auf einem Niveau läuft, kommt irgendwann der nächste Schritt. Das war bei Kambundji in diesem Jahr gleich zweimal der Fall, zuerst in der Halle über 60 m Hürden, nun im Freien. Die Trainerin Müller hatte noch Anfang August im Training gesagt, sie habe von ihrer Athletin in dieser Saison bisher kein Wow-Rennen gesehen. Dieses hat sich Kambundji für die Weltmeisterschaften aufgespart.
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