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Er kann «eklig» sein und gibt keine Ruhe: Wie der Trainer Mauro Lustrinelli den FC Thun reizt

Er kann «eklig» sein und gibt keine Ruhe: Wie der Trainer Mauro Lustrinelli den FC Thun reizt

Die Berner Oberländer überraschen als Leader der Super League. Das hat auch mit dem Tessiner zu tun, dem als Fussballer das Talent nicht zuflog. Für ihn war die Karriere Arbeit. Ähnlich wie für Alex Frei.

Peter B. Birrer, Thun

Stört in Thun erfolgreich die Idylle der Kleinfamilie und ist mit dem Aussenseiter Leader: der Trainer Mauro Lustrinelli.

Die Trainer sagen, dass der Fussballer Mauro Lustrinelli oft Fragen gestellt habe. Er wollte jede Auswechslung begründet haben, jede Ersatzrolle. «Eklig», fordernd sei das gewesen, mühsam auch. Aber nicht unfundiert. Meistens klug. Bernard Challandes erlebte als Cheftrainer im FC Thun 2011 den Übergang von Lustrinelli vom Spieler zum Assistenztrainer. Und sagt heute: «Im Kopf wollte er immer Trainer sein.»

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Der 49-jährige Mauro Lustrinelli sitzt in einem Raum, oben in der Thuner Arena. Er hört zu, legt den Kopf etwas schief und fragt mit Schalk in den Augen: «Wissen Sie, wann ich die erste Trainerlizenz hatte? Mit 22 Jahren. Ich spielte mit dem ersten, kleinen Profivertrag für Bellinzona, studierte in Lugano und trainierte nebenbei am Abend die D-Junioren des Klubs. So finanzierte ich mein Studium.»

Die U-21-Auswahl blühte mit Lustrinelli auf

Nach seiner Karriere als Fussballer ging es für ihn 2012 flugs als Coach in Thun weiter, im Nachwuchs, als Assistent. Zweimal sprang er als Cheftrainer ein. 2017 wechselte er zum Schweizerischen Fussballverband (SFV), wo er bald darauf die U-21-Auswahl übernahm. Diese qualifizierte sich nach jahrelanger Endrunden-Absenz mit Lustrinelli zweimal für die EM.

2022 ging er zum FC Thun zurück. Diesmal als Chef. Challenge League, bescheidenes Salär, Heimatgefühle. Er stammt aus der Region Bellinzona und besitzt auch den italienischen Pass. Seit vielen Jahren wohnt er aber in Steffisburg bei Thun. Seine zwei Söhne reden Berner Dialekt. Nach einem dreijährigen Anlauf stiegen die Thuner 2025 in die Super League auf – und sind Leader.

Sie müssen sich im Heimspiel zuletzt gegen den Servette FC zum 3:1-Erfolg durchleiden. Lustrinelli ist in permanenter Unruhe, tigert in der Coaching-Zone umher. Er schreit, fuchtelt, reklamiert und wird verwarnt. Er übertreibt, «weil wir spielerisch und taktisch nicht das umsetzten, was wir uns vorgenommen hatten», wie er Tage später begründet. Er will ein Signal setzen und sucht den Weg über Emotionen.

Man kann sich gut vorstellen, wie der Trainer in der Halbzeit eines Spiels unangenehm werden kann, auf dem einen Fehler des Spielers herumstochert und die 17 bis 20 Aktionen unerwähnt lässt, die formidabel waren. Der betreffende Spieler denkt: Geht’s noch? Der Verteidiger Marco Bürki sagt, dass Lustrinelli «der Genügsamkeit entgegenwirkt», selbst im ersten Training während einer Länderspielpause. Es heisst in Thun, dass der Trainer auch den Auftrag habe, die Idylle der Kleinfamilie zu stören.

Der Störenfried weiss, wie geredet wird. Er sagt: «Vor ein paar Monaten sagte mir ein Stürmer: ‹Ich kann nicht Pressing spielen und gleichzeitig Tore schiessen.›» Die Antwort des Trainers: «Doch, das kannst du.» Die vorläufige Folge dieser Episode ist, dass der Stürmer in dieser Saison bis jetzt sechs Tore erzielt hat. Sein Name: Christopher Ibayi.

Seine Spieler sagen über ihn, dass er einer sei, der nie Ruhe gebe.

Peter Schneider / Keystone

Der Lustrinelli-Slang kommt beim Publikum an

«Lustrinelli gibt nie Ruhe», berichtet der erfahrene Spieler Leonardo Bertone. An der Seitenlinie, in der Kabine. Der Trainer kann aus der Haut fahren. Deutsch ist nicht seine Muttersprache. Er spricht ein italienisches Lustrinelli-Deutsch, das im Volk ankommt und mit dem er sich in der Kabine vermutlich mehr als sonst erlauben kann. An Medienkonferenzen redet er von «brutaler Leidenschaft» oder von einer «Challenge», die «geil» sei.

Die Präzision der Sprache ist nicht das höchste Gut des Südschweizers. Was heisst Aggressivität in welchem Moment? Was will der Trainer vom Spieler genau? Lustrinelli hat sich entwickelt, es fliegen weniger Späne durch die Luft als zu Beginn. Er lässt Korrekturen zu, hört auf sprachliche Feinheiten, bindet andere Trainer ein, zum Beispiel auch den Videoanalysten.

Mit seinem lateinischen Hintergrund bringt er Energie ein. So viel, dass Angestellte staunen, woher er die nimmt. So viel auch, dass zu fragen ist, wie dauerhaft das sein kann. «Ich brauche nicht zwei Wochen Pause am Stück», sagt Lustrinelli, «zwischendurch kann eine Stunde Auszeit genügen, aber die muss qualitativ gut sein.»

Dem FC Thun fällt nichts in den Schoss. Lustrinelli hatte eine Spielerkarriere, in der er sich viel erarbeiten musste. Auch ihm fiel nichts einfach so zu. Er studierte Betriebswirtschaft und war im Profifussball ein Aussenseiter. Für den Spätzünder war wenig vorgespurt. Mit 25 Jahren kam der Stürmer 2001 aus Bellinzona zum FC Wil in die Challenge League. Als er 2005 den FC Thun unter anderem mit zwei Toren gegen Malmö in die Champions League brachte, war er bereits 29 Jahre alt.

Wie Inzaghi liess sich Lustrinelli geschickt fallen

Er ist 1 Meter 73 gross und war nicht mit technischem Talent gesegnet. Aber er konnte verbissen sein, eklig für die Verteidiger, ambitioniert, besessen. Er war ein Schlitzohr, brauchte wenig Ballkontakte, liess im Strafraum den Instinkt walten und liess sich dort auch gewandt fallen, indem er sich so bewegte, dass der Verteidiger zuerst das Bein und erst danach den Ball traf.

Ein Stürmer, den Lustrinelli mochte, war Filippo Inzaghi. Das fussballerische Können des Italieners bleibt nicht als Augenweide in Erinnerung. Aber Inzaghi war effizient, durchtrieben, spielte spekulativ. Und er holte viele Elfmeter heraus. Lustrinelli schildert, wie sich der frühere Schiedsrichter Massimo Busacca verhalten habe. Der Tessiner Busacca habe ihm auf dem Rasen in weiser Voraussicht auch einmal «stai in piedi» («Bleib auf den Beinen») zugerufen.

Lustrinelli hatte etwas vom Schweizer Rekord-Torschützen Alex Frei und erkämpfte sich Torchancen und Tore, während andere mehr vom Talent zehrten. Das machte ihn widerstandsfähig, das liess ihn zum Strategen werden. Frei und Lustrinelli gewannen ihre Zweikämpfe nicht wegen technischen Geschicks.

Ein Trainer erinnert sich an den Stürmer Lustrinelli so: «Er hat Tore gemacht. Punkt.» Banaler geht’s nicht. 110 in der obersten Spielklasse. In Thun kam er 2004/05 auf 20 Meisterschaftstore. Das blieb sein Spitzenwert.

Als Stürmer gelangen Lustrinelli einst 110 Tore in der obersten Spielklasse.
Kein Weg führte an Frei, Streller und Yakin vorbei

Die Spielerkarriere war nicht herausragend – der wenig einbringende Abstecher ins Ausland nach Prag eingeschlossen. Ins Nationalteam rutschte er im Zuge der Thuner Champions-League-Saga und brachte es auf 12 Länderspiele. Die Schatten von Alex Frei, Marco Streller und Hakan Yakin waren zu gross. Im WM-Spiel 2006 in Dortmund gegen Togo wurde Lustrinelli für Frei eingewechselt und bereitete das 2:0 Tranquillo Barnettas vor.

Das bleibt haften. Vor der WM hatte der damalige Nationaltrainer Köbi Kuhn angekündigt, in den Testspielen allen 23 Spielern Einsätze zu geben. Kuhn vergass Lustrinelli. Dieser sagte dazu: Als Profi könne er damit leben, als Mensch zeuge dies für ihn von Respektlosigkeit. So schrieb das die NZZ 2006 nach dem Lustrinelli-Einsatz gegen Togo.

Heute sagt der Betroffene, dass Kuhn im klärenden Gespräch in väterlicher Art auf sein «Bauchgefühl» verwiesen habe. Frei, Streller, Yakin. Basta. «Ich kann nicht anders», sagte Kuhn. Die Antwort des in Rage geratenen «Ersatzstürmers»? «Ich bringe eine gute Flasche Rotwein aus dem Tessin mit, dann trinken Sie, damit sich Ihr Bauchgefühl ändert.»

Bezeichnenderweise kam die kurze Karriere im Nationalteam für den (Ersatz-)Stürmer 2008 in einem denkwürdigen Augenblick zum Ende. Die Schweiz verlor am Anfang der Ära mit Ottmar Hitzfeld in Zürich das WM-Qualifikationsspiel gegen Luxemburg 1:2. Für wen war Lustrinelli, der nur die Querstange traf, eingewechselt worden? Für Alex Frei.

Der Thun-Trainer fordert – und überfordert

Lustrinelli weiss, was es heisst, hintenanstehen zu müssen. Vielleicht versucht er deshalb, jedem Spieler einzutrichtern, ja nicht der Genügsamkeit zu verfallen. Lustrinelli hat als Spieler hinterfragt. Und er tut es auch als Trainer. Er kann verbissen, aber auch lustig sein. Er fordert, überfordert auch. Selbst der Klubpräsident Andres Gerber, der 2005 mit Lustrinelli in der Königsklasse spielte, sah sich schon veranlasst, den Trainer darauf hinzuweisen, dass «du jetzt auch einmal zufrieden sein kannst».

Auf der anderen Seite sei Intensität «nicht verhandelbar», sagt jemand im Klub. Ohne emotionale Dichte, ohne Zusammenhalt, ohne Grenzen zu ritzen, wird Thun nicht Leader. «Was glauben Sie denn, warum wir Leader sind?», fragt der Trainer.

Dieser macht im Angesicht von Eiger, Mönch und Jungfrau das, was er schon als Nachwuchstrainer im SFV gemacht hat. Er lebe Leidenschaft und verstehe es, «diese den Spielern einzuimpfen, gerade den Jungen», sagt Pierluigi Tami, damals im SFV der Vorgesetzte Lustrinellis. «Vollgas» ist ein Wort, das im Vokabular des FC Thun derzeit überstrapaziert wird. Das Fussballleben kann Vollgas sein. Aber nicht immer. Sonst droht Verglühen.

Der IT-Unternehmer Beat Fahrni ist ebenfalls der Typus Kraftwerk. Die Thuner werden nach jahrelangem Existenzkampf nicht unvernünftig, stehen aber ökonomisch nicht mehr mit dem Rücken zur Wand. Sie können sich dank Fahrni etwas mehr leisten als früher, müssen nicht mehr jede Trouvaille bei erstbester Gelegenheit verkaufen.

Lustrinelli kann verbissen, aber auch lustig sein.
Der FC Thun geht an Grenzen

Ende 2024, in der Challenge League, in einem Moment, in dem der Aufstieg in den Sternen lag, verlängerte der Klub den Kontrakt mit Lustrinelli bis 2028. Thun ging an Grenzen, emotional mit dem Treuebekenntnis, aber auch finanziell, obschon der fixe Jahreslohn eines Thuner Trainers ein paar hunderttausend Franken unter demjenigen in Basel, Bern und Zürich liegt.

Die sportliche Stabilität ist auch vor dem Hintergrund der Instabilität auf der Geschäftsstelle zu sehen. Fahrni föhnte das Haus von oben bis unten durch. Das hatte Opfer zur Folge. Aber es gibt auch die Beständigkeit: Andres Gerber ist Klubpräsident und ein Thuner Urgestein, der heutige Sportchef Dominik Albrecht wirkt seit vielen Jahren im Verein, auch das Trainerteam ist gefestigt. Rund um Mauro Lustrinelli, der zum halben Thuner geworden ist.

nzz.ch

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