Eine norwegische Fussball-Saga – die wunderbare Reise von Bodö/Glimt im Europacup


Die Mitternachtssonne werden die Engländer von Tottenham Hotspur am Donnerstag knapp verpassen, die kommt in Bodö erst Anfang Juni. Aber es wird noch hell sein, wenn sie ihr Rückspiel im Halbfinal der Europa League bestreiten. Und wenn sie nicht auf der Hut sind, ja dann werden sie vielleicht ihr nordisches Wunder erleben.
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Bodö ist die erste Stadt am Polarkreis, die einen europäischen Halbfinal ausrichtet. Ihr lokaler Fussballklub heisst Glimt, der Blitz. Für den heutigen Sonntag ist Schneefall vorhergesagt. Zum Anpfiff am Donnerstag soll es vier Grad haben. Auf den Pressetribünen des kleinen Stadions Aspmyra mit seinem Kunstrasenplatz werden dieser Tage schnell noch ein paar Zusatzsitze montiert. Plötzlich haben sich sogar Journalisten aus Indien und Südkorea angemeldet.
Aston Villa hat mehr Fans als Bodö EinwohnerBeim Hinspiel in Tottenham waren mehr Leute im Stadion, als Bodö Einwohner hat. Rund 50 000 leben dort. In Bodös gesamter Provinz Nordland sind es auf 38 155 Quadratkilometern Fläche – knapp weniger als die Schweiz – rund 240 000. Derzeit plant Glimt ein neues Stadion. Statt der bisherigen 8200 Plätze soll es über rund 10 000 verfügen. Wo sollten mehr Zuschauer auch herkommen?
Im Winter hat es an manchen Tagen weniger als eine Stunde Licht und ist wegen der Berge für rund einen Monat keine Sonne zu sehen. Draussen Fussball gespielt wird frühestens ab März. Bis in die Hauptstadt Oslo sind es sechzehn Stunden.
Bodö/Glimt hat keinen Grosssponsor, Scheich oder Oligarchen. Die Stammspieler sind fast alle Norweger. Die wichtigsten Spieler kommen aus der Stadt selbst. Norwegen hat letztmals 2000 an einem grossen internationalen Fussballturnier teilgenommen, der EM. Der Umsatz aller Klubs der Eliteserien liegt bei knapp 200 Millionen Euro, das ist nicht einmal ein Drittel des Umsatzes von Tottenham Hotspur.
Märchen, Wunder, Zauberei: Man darf alles dazu sagen. Wie es dieses Bodö/Glimt in den Halbfinal schaffen konnte, das ist eigentlich nicht zu erklären.
Versuch mit der Tradition: das Skrei-Angeln. Während einiger Monate im Jahr zieht der Wanderkabeljau vor der Küste vorbei. Der Fang der bis zu vierzig Kilogramm schweren Fische gilt seit der Wikingerzeit als besondere Kunst. Oberstes Gebot: die Gelegenheit beim Schopfe packen. So wie Glimt auf dem Platz, wenn es seine Gegner plötzlich überrollt, mit vielen Toren in wenigen Minuten.
Versuch mit dem Fussball: Glimt spielt exquisit. Der Trainer Kjetil Knutsen, seit 2018 im Amt, steht für eine klare Methode und spielerischen Drill. Mit dem früheren Kick and Rush der Norweger hat es nichts zu tun, wenn sich Bodö mit kurzen, schnellen Pässen durch das Mittelfeld kombiniert. Es sieht eher aus wie bei Ajax oder Barcelona.
Versuch mit der Psychologie: Womöglich wäre es gar nicht so relevant, dass in Bodö ein eisiger Wind weht und der Ball auf Kunstrasen anders läuft – wenn die Gegner ihr Unheil nicht so fürchten würden. Die «Spurs» gewannen das Hinspiel recht komfortabel mit 3:1, doch in den Schlussminuten meinte man ihre Knie schlottern zu sehen, und das nicht nur, weil sie dafür berühmt sind, es am Ende eh immer zu vermasseln.
Die Norweger gingen derweil gar nicht so unzufrieden nach Hause. Eine Niederlage mit zwei Toren, das liege im Rahmen der Zielvorstellung, schrieb die Zeitung «Aftenposten».
Denn es bleibt ja das Aspmyra. Der Ort, wo der legendäre José Mourinho 2021 beim 1:6 seiner AS Roma die höchste Niederlage seiner 1186 Matches umfassenden Trainerkarriere verpasst bekam. Wo zuletzt auch die anderen Römer von Lazio im Viertelfinal vorgeführt wurden. Am Morgen des Matches türmte sich auf dem Kunstrasen noch der Schnee, die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt.
Mit Traktoren wurde der Platz freigeräumt. Beim Abpfiff hatte Glimt 2:0 gewonnen – nur 2:0. Das Torschussverhältnis lautete 18:6. «In Bodö bekommt jede Mannschaft der Welt Probleme», sagte der Lazio-Profi Gustav Isaksen danach.
Ausserdem ist am Donnerstag wieder der in London gesperrte Patrick Berg dabei. Der Mittelfeldmann wird oft als Captain bezeichnet, was stimmt, aber auch nicht ganz: Die Binde rotiert, ganz das demokratische Norwegen, zwischen bis zu sieben Spielern. Glücklicherweise unabstreifbar ist die Familiengeschichte der Bergs. Patrick ist der Sohn von Örjan, Enkel von Harald und Neffe von Runar. Alle waren norwegische Nationalspieler, alle kommen aus Bodö, alle spielten für Glimt.
Bis 1972 durften in Norwegen Klubs aus dem hohen Norden nicht in der höchsten Liga spielenUnter anderem für Glimt, denn früher musste weiterziehen, wer Profi sein wollte. Zu Grossvater Haralds Zeiten durften Klubs aus Norwegens Norden nicht einmal in der ersten Liga spielen. Die offizielle Begründung waren Klima und Reisestrapazen; dass auch Diskriminierung eine Rolle spielte, gilt als sehr offenes Geheimnis. Erst 1972 wurde die Fussball-Apartheid aufgehoben. Glimt schaffte 1976 den ersten Aufstieg und wurde gleich Vizemeister. Bereits 1975 hatte man den Cup gewonnen.
Doch danach schien der Stolz des Nordens zu verglühen. Glimt wechselte zwischen den Ligen und flirtete öfter mit dem Konkurs als mit Titeln. 2010 mussten Vater und Onkel Berg eine Reihe von Benefizaktionen organisieren, um den Verein zu retten. Es war auch die Zeit, als Ulrik Saltnes kam, aus Brönnöysund ein paar Fjorde weiter südlich.
Der Mittelfeldspieler Saltnes, Captain auch er, ist der Mann, der die prächtigen Tore beim Heimsieg gegen Lazio erzielte und auch den Treffer in Tottenham. Seit 2011 ist er ununterbrochen im Klub, damals begann er im B-Team und kümmerte sich zusätzlich um die Trikotwäsche der ersten Mannschaft.
So verdiente er sich ein paar Kronen dazu, und während die Trommel drehte, las er seine Bücher. Saltnes schrieb auch gern, er begann ein Journalistikstudium. Aber seine Karriere auf dem Rasen kam nicht richtig vom Fleck, er selbst grübelte, ob er vielleicht zu verkopft war.
Die Blockade half ein Mann zu lösen, dem manche geradezu mystische Kräfte zuschreiben. Der Mentaltrainer Björn Mannsverk, ein ehemaliger Kampfpilot mit Einsätzen in Afghanistan und Libyen. 2017 heuerte er an, auch andere Vereinsbereiche wurden professionalisiert. Glimt stieg wieder auf, und seither schaut es nicht mehr zurück.
2020 gewann Bodö als erster Klub Nordnorwegens die Liga. 2021, 2023 und 2024 auch. Durch die Erfolge in Europa hat man inzwischen Einnahmen von rund 60 Millionen Euro pro Saison. Statt mühsamer Auswärtsspielreisen mit Umsteigen in Oslo wird per Charterflugzeug geflogen. Man kann Nationalspieler zurückholen wie Berg, der zwischendrin einmal ein halbes Jahr in Lens unglücklich war, oder wie den Linksaussen Jens Petter Hauge, gebürtig in Bodö auch er, aber einst für acht Millionen Euro zur AC Milan transferiert. Die erste Teilnahme an der Champions League scheint nur noch eine Frage der Zeit.
Rund um den Besuch in London sagte Saltnes der Zeitung «VG», es sei «ziemlich unwirklich», daran zurückzudenken, woher sie kämen, er und sein Klub: «Es fühlt sich so unglaublich weit weg an. Wie ein völlig anderes Leben.»
Doch beim Blick von aussen ist vieles familiär, einfach und speziell geblieben. Die Einnahmen aus dem Gruppenheimspiel gegen Maccabi Tel Aviv spendete der Verein für das Rote Kreuz in Gaza. Bis auf den russisch-israelischen Torwart Nikita Haikin – Elfmeterheld beim Viertelfinalrückspiel in Rom – stehen nur Norweger und ein paar Dänen im Kader.
Fredrik Björkan, ebenfalls Nationalspieler, ebenfalls aus Bodö, ist der Sohn des Aufstiegstrainers von 2017 und heutigen Chefanalysten, Aasmund Björkan. Und der Erfolgstrainer Knutsen, so heisst es, nahm bisher nicht einmal den Hörer ab, als ihn Ajax oder Klubs aus der Premier League umgarnen wollten.
«Ich glaube nicht an Wunder», sagte Knutsen nach dem Weiterkommen gegen Lazio: «Ich glaube an unsere Reise.» Was soll man erst sagen, sollte sie in einen Final führen.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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