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Marie Marvingt nahm 1908 inoffiziell an der Tour de France der Männer teil – oder ist alles nur eine Legende?

Marie Marvingt nahm 1908 inoffiziell an der Tour de France der Männer teil – oder ist alles nur eine Legende?
Marie Marvingt im hohen Alter im Jahr 1950. Als junge Frau gehörte sie zu den besten Radrennfahrerinnen, musste aber ausser Konkurrenz starten.

Der Frauen-Radsport erlebt einen grossen Aufschwung, die wichtigsten Rennen der Männer sind längst auch Teil im Jahreskalender ihrer Kolleginnen: Mailand–Sanremo, die Flandernrundfahrt, Paris–Roubaix, der Giro d’Italia, die Spanienrundfahrt, die Tour de France – diese Premium-Produkte besitzen inzwischen bereits eine Tradition für weibliche Profis.

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Die Tour de France Femmes, die am vergangenen Wochenende startete und am Sonntag zu Ende geht, ist die vierte Ausgabe seit der Neuauflage des Wettkampfs. Der Tour-Direktor Christian Prudhomme zeigt sich «fasziniert von der Frauen-Tour, sie bietet exzellenten Sport». Und betont, dass es nur eine Tour gebe, eine für beide Geschlechter – «so wie es auch nur ein Wimbledon gibt».

1908 jedoch war die Welt noch eine andere. Marie Marvingt, eine Abenteurerin und exzellente wie vielseitige Sportlerin, wollte an der sechsten Tour de France in jenem Sommer ihre Radsport-Fähigkeiten im Wettkampf der Männer vorführen.

Am Giro d'Italia 1924 durfte offiziell eine Frau mitfahren

Die Französin, geboren im Februar 1875 in Aurillac im Département Auvergne-Rhône-Alpes, war zu jenem Zeitpunkt schon eine Berühmtheit. Unter anderem durchschwamm sie als erste Frau die Seine im gesamten Pariser Stadtgebiet, flog als erste weibliche Pilotin mit einem Ballon von Frankreich über den Ärmelkanal nach England und erhielt als dritte Frau eine Pilotinnenlizenz in ihrem Land. Sie war zudem herausragend in den Sportarten Fechten, Skifahren, Bergsteigen, Leichtathletik, Eisschnelllauf, Schiessen – und Radfahren.

Die US-amerikanische Autorin Rosalie Maggio schrieb in der Biografie über Marie Marvingt mit dem Titel «Fiancée of Danger» (Verlobte der Gefahr) über das Jahr 1908 unter anderem: «Marie hatte intensiv trainiert und fühlte sich bereit für die Tour de France.» Daraufhin habe sie sich für das in Paris beginnende Rennen einschreiben wollen. Doch sie sei nicht zugelassen worden, weil die Tour-Organisatoren damals nur Männern eine Startlizenz ausgestellt hätten.

Die Verantwortlichen des Giro d’Italia waren nicht so repressiv. Sie genehmigten 1924 die Startanfrage von Alfonsina Strada, einer in ihrer Zeit berühmten Radfahrerin. Sie überschritt zwar im Verlauf des Rennens zweimal das Zeitlimit, durfte allerdings weiter mitmachen und erreichte vielbeachtet nach zwölf Etappen das Ziel in Mailand.

Alfonsina Strada nahm 1924 am Giro d'Italia teil.

Fototeca Storica Nazionale / Hulton / Getty

Henri Desgrange, Prudhommes Urvorgänger als Chef der Tour, die 1903 ihre erste Auflage erlebte, hatte tatsächlich eine dezidiert andere Meinung über sportliche Aktivitäten von Frauen als sein heutiger Nachfolger. Am 12. Juni 1904 schrieb Desgrange in der Zeitung «L’Auto», deren Chefredakteur er war: «Es gibt kein abscheulicheres Wesen als eine Frau, die Sport treibt.»

Fünf Jahre später, am 7. August 1909, erschien ein anonymer Leserbrief in «L’Auto», der an den «Herrn Direktor» adressiert war. Darin war zu lesen: «Ich bedaure nur eine Sache: Eine Frau zu sein und nicht an Rennen wie der Tour de France teilnehmen zu können. Ich hoffe, dass es uns eines Tages möglich sein wird.»

Es gab eine direkte Antwort auf dieses Schreiben, es war unsigniert, doch die Replik dürfte nicht erschienen sein, ohne dass Desgrange sie zur Kenntnis genommen hat – wenn er nicht sogar selbst der Verfasser war: «Eine Kategorie für Frauen bei der Tour de France? Ich glaube nicht, dass wir schon so weit sind. Sonst müssten wir den Ballon d’Alsace und andere Berge entfernen.»

Das Datum der Veröffentlichung des Leserbriefes passt in den zeitlichen Rahmen der Marvingt-Erzählung, denn die Autorin Maggio schreibt in ihrem Buch auch, dass sich Marvingt von der Absage nicht habe beirren lassen: «Marie Marvingt startete bei jeder Etappe, allerdings allein fahrend nach den Männern.»

Der Start zur Tour de France 1908 erfolgte am 13. Juli an der Bineau-Brücke in Paris.

Die französische Autorin Louise Guillemot schreibt in ihrem in diesem Jahr erschienenen Buch über Marie Marvingt («Les ailes de l’audace»; die Flügel der Kühnheit) – «ein Roman mit erfundenen Elementen, der aber von historischen Quellen inspiriert ist» –, die Tour-Pionierin sei dem Feld vorausgefahren und habe das Ziel am 9. August 1908 erreicht, somit am selben Tag wie der Sieger Lucien Petit-Breton. Gerade einmal 35 weitere von ursprünglich 110 gestarteten Fahrern überquerten ebenfalls die Ziellinie.

Voraus- oder hinterhergefahren, das ist ein gravierender Unterschied. Doch dieses wesentliche Detail kann nicht aufgelöst und final richtiggestellt werden. Denn es sind aus Anlass von Marie Marvingts 150. Geburtstag zwar viele Bücher und Berichte erschienen, die ihre Tour-Erlebnisse thematisieren, doch war es auch wirklich so?

Barbara Schmidt und Céline Sabiron, die Rosalie Maggios Buch ins Französische übersetzt haben, recherchierten die Hintergründe von Marvingts potenzieller Tour-Teilnahme sehr ausführlich. Schmidts Fazit lautet: «Wir finden keine direkten Spuren für Marie Marvingts Tour-Abenteuer von 1908. Auch nicht die Anfrage an Desgrange.» Sie sage nicht, dass die Geschichte nicht stimme, «aber wir haben keine Beweise».

Der Nachlass der Pionierin ist verschollen

Auch Françoise Baron, Dozentin für Wissenschaft und Techniken der körperlichen und sportlichen Aktivitäten (Staps) an der Universität Lothringen, stellt nach eingehender Marvingt-Forschung fest: «Ich habe bei der Tour de France recherchiert. Und keine Beweise für Marvingts Abenteuer von 1908 gefunden.» Das sei umso überraschender, weil ihre vielen Aktivitäten, ihre Erstbesteigungen als Frau in den Alpen, ihre Fliegereinsätze im Ersten Weltkrieg und andere Pionierleistungen publizistisch sehr umfangreich gewürdigt worden seien.

Der Nachlass der Pionierin sei zudem leider verschollen, sagt Barbara Schmidt. Marvingt sei 1963 im Alter von 88 Jahren verarmt und kinderlos gestorben. Nach ihrem Tod verfrachtete der Besitzer ihrer Wohnung alle Habseligkeiten in den Sperrmüll.

Marie Marvingt war auch eine bekannte Pilotin.

Die französische Sporttageszeitung «L’Équipe» stiess zuletzt bei Recherchen in der Gallica, der Webseite der französischen Nationalbibliothek, allerdings auf einen Hinweis. Am 25. Dezember 1910 ist in einem langen Artikel in der Zeitschrift «Revue aérien» konkret zu Marvingts Zweiradpassion zu lesen: «Sie fuhr allein mit dem Fahrrad sehr lange Strecken, unter anderem Nancy–Mailand, Nancy–Toulouse, Nancy–Bordeaux und die Tour de France im Jahr 1908.» Das aber sei in jenem Artikel der einzige Hinweis auf die Frankreichrundfahrt gewesen.

Was weiterhin fehlt, ist eine Doktorarbeit, die intensiv das Leben der Marie Marvingt erforscht. Die Voraussetzungen dafür sind gleichwohl bereits geschaffen: Die Stadt Nancy, in der Marvingt lebte, «hat jedem Interessierten, der eine Dissertation über diese Frau schreiben möchte und der bei dieser Gelegenheit alle verfügbaren Archive durchforstet, ein Stipendium angeboten», wie Barbara Schmidt erzählt.

Mittlerweile ist das Fussballstadion von Le Mans nach Marvingt benannt und gibt es sogar ein Marie-Marvingt-Komitee, dessen Ziel es ist, Berichte über die Taten der Pionierin durch die Zeiten zu retten. Serge Cordier, der Leiter dieser Einrichtung, hegt die Hoffnung, dass irgendjemand irgendwo doch noch den ultimativen Beweis für Marvingts Tour-Teilnahme im Jahr 1908 findet – wie auch immer sie geartet war.

nzz.ch

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