KOMMENTAR - Spitzensportkarrieren sind kein Menschenrecht: Mit verpflichtenden Geschlechtstests handelt der Sport konsequent


Ein Mann startet bei den Frauen über 800 Meter und heimst Goldmedaillen ein. Ein anderer Mann verprügelt eine körperlich unterlegene Frau. Nein, es geht hier nicht um plumpen Betrug oder häusliche Gewalt. Sondern um polemisch überspitzte Zusammenfassungen tatsächlicher Ereignisse an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften.
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Imane Khelif, eine Boxerin aus Algerien, gewann 2024 in Paris überlegen Olympiagold. Schon vor dem Finalkampf gab es Vermutungen, sie sei biologisch gesehen ein Mann. Ein Beweis dafür fehlte. Ähnlich erging es Caster Semenya, die 2009 in Berlin erstmals Leichtathletik-Weltmeisterin über 800 Meter wurde.
Mit Semenyas Triumph rückten intersexuelle Athletinnen in den Fokus; Khelifs Olympiasieg brachte sie zurück in die Schlagzeilen. Die Fälle veranlassten die Weltverbände World Athletics sowie World Boxing dazu, drastische Massnahmen zu ergreifen.
Wer dieses Jahr an den Box-WM in Liverpool mitmachen wollte oder einen Start an den laufenden Leichtathletik-WM in Tokio anvisierte, musste sich zuvor einem Geschlechtstest unterziehen.
Imane Khelif klagt vor dem Internationalen SportgerichtshofSemenya gilt als gesichert intersexuell, bei Khelif deutet vieles darauf hin. Sie protestiert gegen die Geschlechtstests und hat den Internationalen Sportgerichtshof (TAS) angerufen. Das Urteil steht noch aus, Khelif fehlte an den WM Anfang September.
Wegen einer Geburtsanomalie verfügen Intersexuelle über einen männlichen XY-Chromosomensatz. Das allein schliesst sie nicht vom Start bei den Frauen aus. Entscheidend ist, ob eine männliche Pubertät durchlaufen wurde. Bei Semenya war das der Fall. Ihr fehlt die Gebärmutter, die Hoden liegen innerhalb des Körpers.
Deshalb wuchs sie als Mädchen auf, wurde als Frau sozialisiert. In der Pubertät profitierte sie aber von einem Testosteronschub, das männliche Sexualhormon führt zu stärkerem Knochen- und Muskelwachstum. Semenya hatte deshalb einen Vorteil gegenüber biologischen Frauen.
World Athletics und World Boxing handeln mit der Einführung des Geschlechtstests konsequent. Sie begründen die Massnahme mit Fairness und im Falle des Boxens auch mit dem Schutz der Gesundheit: Boxt ein Mann gegen eine Frau, wird es gefährlich.
Die Testpflicht ist der beste Ausweg aus dem DilemmaDie Regel sorgte dennoch für Empörung – in den Medien, bei Ärztinnen und Ethikern. Frauen würden unter Generalverdacht gestellt, schliesslich müssten Männer sich nicht testen lassen. Dieses Argument verfängt ebenso wenig wie die Aussage, wonach der Sport drängendere Probleme zu lösen habe: Missbrauch, Doping oder Gewalt. Das ist zweifellos richtig, entbindet die Verbände aber nicht von der Pflicht, den Umgang mit intersexuellen Sportlerinnen zu regeln.
Der Sport steckt in einem Dilemma: Eine Seite verliert immer. Entweder biologisch weibliche Athleten, die trotz Talent und Training einer Medaillenchance beraubt werden. Oder intersexuelle Personen. Sie dürften aufgrund ihrer Biologie bei den Männern starten, sind in dieser Kategorie aber nicht konkurrenzfähig. Semenya hätte mit ihrer Bestzeit über 800 Meter die WM-Limite der Männer um zehn Sekunden verfehlt.
Intersexuelle lassen sich im Sport nicht ins gängige Geschlechterschema einteilen: Bei den Frauen sind sie über-, bei den Männern unterlegen. Im Schwimmen gab es zwar Experimente mit einer offenen Kategorie für Intersexuelle und Transmenschen. Es meldete sich niemand an – wohl auch, weil Stigmatisierung droht. Die Einführung von Geschlechtstests ändert an dieser Situation nichts. Doch die Verbände wählten den besten aller schlechten Auswege aus dem Dilemma.
Kritiker bemängeln, dass die Tests ohne medizinische Notwendigkeit durchgeführt werden, die Athletinnen dazu gezwungen werden. Doch die Testpflicht ist lediglich eine zusätzliche Vorgabe im vielschichtigen Regelwerk einer Sportart – Athletinnen und Athleten verpflichten sich schliesslich zur Einhaltung des Anti-Doping-Statuts. Auch dort gibt es einen Testzwang, der unbestritten ist.
Semenya wurde 2012 und 2016 Olympiasiegerin sowie 2009, 2011 und 2017 Weltmeisterin über 800 Meter. Sie profitierte massiv von ihren wissenschaftlich belegten physischen Vorteilen. Der Leichtathletik-Weltverband reagierte zunächst mit der Einführung einer Testosteronobergrenze. World Athletics versuchte mit dieser Massnahme, intersexuelle Sportlerinnen zu integrieren.
Intersexuelle mussten ab 2011 durch die Einnahme von Medikamenten den Testosteronspiegel senken, um bei den Frauen starten zu dürfen. Das machte Semenya – und siegte weiter. Wegen eines Rekurses einer anderen Sportlerin wurde die Obergrenze später zeitweise ausgesetzt. Die Spiele 2016 in Rio de Janeiro zeigten dann, was ohne Regeln passiert. Nebst der Olympiasiegerin Semenya standen zwei weitere Intersexuelle auf dem Podest. Die Testosteronregel scheiterte, und mit ihr die Integration Intersexueller in die Frauen-Kategorie.
Untersuchungen zeigten, dass Vorteile trotz der Senkung des Testosteronwerts erhalten blieben, wenn eine Person eine männliche Pubertät durchgemacht hatte. Als einziger Ausweg bleibt deshalb nach heutigem Wissensstand nur die harte Trennung der Geschlechter.
Juristische Hürden in Frankreich und NorwegenBerechtigte Kritik gibt es an der praktischen Umsetzung der Tests. Sie liegt in der Hoheit der nationalen Verbände. Es kursieren Vermutungen, dass manche Länder ihre Staatsbürgerinnen schützen und falsche Resultate übermitteln würden. Ausserdem sind DNA-Tests ohne medizinischen Grund in Ländern wie Frankreich und Norwegen nur unter strengen Auflagen möglich oder sogar verboten. Letzteres verhinderte an den Box-WM den Start französischer Athletinnen. Sie konnten sich erst in Grossbritannien testen lassen – die Resultate trafen zu spät ein.
Ziel muss in Zukunft so oder so sein, Betroffene frühzeitig zu identifizieren, sie schon im Juniorinnenalter zu testen. Das würde verhindern, dass etablierte intersexuelle Profisportlerinnen ihre Existenzgrundlage verlören. Frühe Tests würden auch unterbinden, dass Geschlechteridentitäten in der Öffentlichkeit verhandelt würden.
Was Khelif und Semenya teilweise zu spüren bekamen, war nichts anderes als Mobbing. Intersexuelle verdienen Schutz vor Zurschaustellung. In Zukunft soll zumindest in der Leichtathletik deshalb der Test vor dem ersten Start in einer Elitekategorie stattfinden, zum Beispiel vor den U-20-WM.
Es gibt Hürden, doch die sind überwindbarDNA-Informationen gehören zu den heikelsten überhaupt. Der Schutz muss hoch gewichtet werden. World Athletics steht im Ruf, dem Datenschutz grosse Bedeutung beizumessen, das Reglement ist streng. Nur der Chefarzt des Weltverbandes habe Zugang zu den Testdaten und werde diese nur stichprobenartig abfragen, so versichert es zumindest World Athletics.
Der Test erfolgt per Wangenabstrich oder Blutprobe, in der DNA wird nach dem SRY-Gen gesucht. Dieses gilt als Indikator für einen XY-Chromosomensatz. Bei einem positiven Befund werden weitere Untersuchungen stattfinden. Das ist unter anderem wichtig, weil der Entdecker des Gens sich zu Wort gemeldet hat. Er schrieb im Online-Magazin «The Conversation», das SRY-Gen allein liefere keinen endgültigen Beweis für eine männliche Pubertät.
Ebenso wichtig ist, dass die Verbände einen Weg finden, betroffene Athletinnen nach einem positiven Test optimal zu begleiten, medizinisch und psychologisch. Das alles sind aber überwindbare Hürden auf dem Weg zu einem fairen Testregime.
Die heftigste Kritik lautet, dass intersexuelle Athletinnen diskriminiert werden, weil für sie ein Wettkampfformat fehlt, sie faktisch ein Berufsverbot erhalten. Der Vorwurf hat einen wahren Kern. Das hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrmals festgestellt. Diese Urteile zeigen allerdings, dass die Regeln des Sports der Menschenrechtskonvention in Teilen zuwiderlaufen – gerade, wenn es um Diskriminierung geht. Und sie sind in diesem Themenkomplex oft unvereinbar mit den Normen einer inklusiven Gesellschaft.
Sport ist per se exklusiv. Jemand gewinnt, jemand verliert. Inklusion aller Gruppen kann nicht seine Aufgabe sein. Sie würde Fairness und den Wettkampf ad absurdum führen und dem Sport einen grossen Teil seiner Faszination rauben. Dass in diesen Punkten eine radikale Veränderung stattfindet, weg vom Wettkampfgedanken und vom olympischen Motto «Citius, altius, fortius», wird Wunschdenken mancher Kritiker bleiben.
Durch den Ausschluss von den Frauen-Kategorien werden Intersexuelle zwar diskriminiert. Das übergeordnete Interesse an einem fairen Wettkampf biologisch weiblicher Athleten überwiegt jedoch.
Nicht jeder Athlet, ob Frau oder Mann, schafft es an die Olympischen Spiele. Verantwortlich dafür können mangelndes Talent, schlechtes Training oder Verletzungen sein. Oder eben, dass die Person intersexuell ist. Das ist für viele ein Schicksalsschlag. Aber dieser ist kein Freipass dafür, sich die Geschlechterkategorie im Sport auszusuchen. Spitzensportkarrieren oder Olympiamedaillen sind kein Menschenrecht.
nzz.ch