Deutsches Nationalteam in der Nations League: Die Suche nach der neuen Nummer 1
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Ann-Katrin Berger sah durchaus düpiert aus, wie der Ball so durch ihre Beine rauschte, auch wenn der Fehler vor dem 0:1 in der Nations League gegen die Niederlande vorher passiert war. Auch beim Ausgleich zum 2:2-Endstand konnte Berger kaum etwas entgegensetzen, diesmal flog der Ball nach einem Kopfball gegen ihre Laufrichtung, wieder hätten andere die Entstehung verhindern können, ja müssen. Beide Momente dürften also mit mildernden Umständen in den Bewertungsbogen eingeflossen sein. Nur ist die Lage gerade nun mal so: Selbst für eine erfahrene und erprobte Torhüterin wie die 34 Jahre alte Berger kommt es auf möglichst viele gute Momente an. Denn sie steht unter besonderer Beobachtung.
Vor ein paar Tagen gab Bundestrainer Christian Wück bekannt, dass Giulia Gwinn vom FC Bayern das deutsche Nationalteam nach vier interimistischen Einsätzen künftig als Kapitänin anführen wird. Das erste Länderspiel des Jahres am vergangenen Freitag war Gwinns Premiere als offizielle Anführerin, dieses Thema ist vier Monate vor dem Start der EM in der Schweiz (2. bis 27. Juli) also schon mal erledigt. Wie genau er die Abteilungen Angriff, Mittelfeld und Abwehr besetzt, dafür hat Wück noch ein bisschen Zeit. Aber die Nummer eins im Tor, auf die sollte er sich zügig festlegen. Zu viele offene Fragen tragen nicht zur Stabilität eines Teams bei – und die fehlt seit geraumer Zeit gerade in der deutschen Defensive.
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Beim 2:2 gegen die Niederlande im ersten Länderspiel des Jahres ist Christian Wück viel mit Schimpfen beschäftigt. Zwar sieht er altbewährte Stärken in der Offensive, doch die Abwehr bleibt eine „Herausforderung“, wie der Bundestrainer sagt.
„Wir wollen klare Verhältnisse schaffen“, hatte Wück vor dem Start ins Länderspieljahr angekündigt: „Wir wollen spätestens zur zweiten Nations-League-Phase eine klare Rollenverteilung haben.“ Die erste Nations-League-Phase wird diesen Dienstag mit der Partie gegen Österreich (18.15 Uhr, ZDF) abgeschlossen, die zweite ist für Anfang April angesetzt, mit zwei Spielen gegen Schottland (am 4. April in Dundee und vier Tage später in Wolfsburg). Den 90 Minuten plus x, die nun im Nürnberger Max-Morlock-Stadion zum Sammeln von Bewerbungsmaterial dienen, kommt also eine gewisse Bedeutung zu. Und die Ausgangslage hat sich kurz vorher geändert.
Nominiert hatte der Bundestrainer neben Ann-Katrin Berger auch Stina Johannes von Eintracht Frankfurt und Sophia Winkler von der SGS Essen. Doch am Sonntagabend veröffentlichte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die Nachricht, Winkler habe sich im Training „eine schwere Verletzung im linken Knie“ zugezogen. Die genaue Diagnose wurde weder vom Verband noch vom Verein bekanntgegeben, nur so viel: Nach der Untersuchung in Erlangen reiste Winkler umgehend ab. Die 21-Jährige hatte 2024 gegen die Schweiz debütiert und war beim 6:0 ohne Gegentreffer geblieben, was zwar auch an offensiv harmlosen Gegnerinnen lag, aber Winkler gilt schon länger als große Zukunftshoffnung. Womöglich hätte Wück ihr gegen Österreich eine weitere Gelegenheit gegeben, sich für die EM zu positionieren. Gute Chancen auf eine Teilnahme hatte er ihr bereits eingeräumt, doch das könnte sich erledigt haben.
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Was die Zahl der Einsätze angeht, sind die Unterschiede hinter Bergers 18 Länderspielen nicht groß: Johannes kommt nur auf eine Partie mehr als Winkler. Davon sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen, Johannes ist schon eine Weile dabei und kommt in der Bundesliga auf deutlich mehr Minuten. Doch die 25-Jährige teilt das Schicksal so mancher guten Torhüterin in Deutschland: Es gab immer eine bessere: Nadine Angerer musste eine Ewigkeit warten, bis sie auf Silke Rottenberg folgte. Almuth Schult erging es mit Angerer ähnlich. Auch Merle Frohms brauchte Geduld. Dass sich die Situation nun etwas unterscheidet und die Jüngeren sich schon eher Hoffnungen machen können, liegt auch daran, dass Frohms, 30, im September überraschend aus dem Nationalteam zurücktrat.
Die langjährige Nummer eins war vor den Olympischen Spielen von Interims-Bundestrainer Horst Hrubesch degradiert worden, er setzte auf Berger – die in Frankreich zur Elfmeterheldin aufstieg und großen Anteil am Gewinn der Bronzemedaille hatte. Für die deutschen Fans war sie danach die Fußballerin des Jahres, in den USA wurde die für Gotham FC spielende Berger als beste Torhüterin der Liga ausgezeichnet. Wück rief zwar im Wissen um das Können von Frohms direkt einen Wettkampf im Tor aus. Als er das tat, wird er aber vor allem an ein Duell zwischen Berger und Frohms gedacht haben. Weniger an die Frage, ob er in seinem ersten Turnier als Frauen-Bundestrainer lieber auf Erfahrung setzt oder ob sich der Generationenwechsel auch auf dieser Position ausdrückt.
Den Umbruch beim Kapitänsamt hatte Alexandra Popp mit ihrem Abschied eingeleitet, in der Abwehr war es Marina Hegering mit ihrem Rücktritt – akut bekommen Spielerinnen wie Rebecca Knaak eine Chance, weil die Routiniers Sara Doorsoun (33, Eintracht Frankfurt) und Kathrin Hendrich (32, VfL Wolfsburg) verletzt fehlen. Im Tor hingegen würde ein Umbruch aktiv vorgezogen – und damit würde Berger degradiert. „Er hat wahrscheinlich einen guten Grund dafür, sich noch nicht festzulegen“, sagte Berger zuletzt dem Kicker und ergänzte auf ihre pragmatische Art: „Das Einzige, was ich machen kann, ist das zu spielen, was ich kann.“
Mittelfeldspielerin Sjoeke Nüsken lobt Ann-Katrin Bergers „brutale“ PräsenzVergangenes Jahr hatte Wück die Position wechselnd besetzt. Bei seinem Debüt im Wembley-Stadion gegen England (4:3) stand Berger im Tor, gegen Australien (1:2) folgte Johannes, gegen die Schweiz dann Winkler und gegen Italien (1:2) Ena Mahmutovic vom FC Bayern, die nun für Winkler nachnominiert wurde und von der U23 zum Nationalteam gestoßen ist. Die 21-Jährige war im Herbst verstärkt in den Fokus gerückt, nachdem bei Maria Luisa Grohs eine Krebs-Erkrankung diagnostiziert worden war. Grohs ist wieder genesen und zurück, den Stammplatz beim FC Bayern hat vorerst jedoch Mahmutovic übernommen, die EM kommt für Grohs zu früh.
Wer wollte, konnte bei der Rochade auf den Trikotrücken von Berger, Johannes, Winkler und Mahmutovic einen Hinweis auf den Ausgang der Entscheidungsfindung sehen. Berger trug bei Olympia noch die Nummer 12, danach war nur ihr Trikot mit der Nummer 1 beflockt, die 12 war von Johannes zu Winkler und zu Mahmutovic weitergewandert. Auch wenn Wück das nicht als Aussage gewertet haben wollte, so ist doch davon auszugehen, dass er sich im Austausch mit Torwarttrainer Michael Fuchs, der die entscheidende Empfehlung abgeben wird, wohl für die Erfahrung und Ruhe von Berger aussprechen wird.
Sie leistete sich zwar (folgenlos) auch gegen die Niederlande einen ihrer bisweilen eingestreuten Fehlpässe. Doch ihre Paraden und ihre laut Mittelfeldspielerin Sjoeke Nüsken „brutale“ Präsenz überwiegen. Auch in den Spielaufbau hat Berger mit präzisen langen Bällen immer wieder entscheidend eingegriffen, nicht nur bei ihrem jüngsten Auftritt. Wück zeigte sich nach dem 2:2 in den Niederlanden jedenfalls zufrieden: Berger habe alles abgefangen und die Aufgabe so erfüllt, wie das Trainerteam das erwartet habe. Vielleicht war dieses Lob schon der letzte Hinweis auf die Entscheidung – unabhängig davon, ob Berger sich gegen Österreich mit der Abwehr für die EM weiter einspielen kann, mit der Nummer 1 auf dem Rücken.
süeddeutsche